
Von Jude zu JudeEin Offener Brief an «Wolkenbruch»-Autor Thomas Meyer
Von David Klein
Salü Thomas
Am 2. November 2021 schriebst du mir folgende Mail: «Pfui. Schämen Sie sich.»
Das war deine Reaktion auf meinen Nebelspalter-Artikel «Gedenken im Strassendreck», in dem ich kritisiere, dass der Deutsche Gunter Demnig, mit seinen «Stolpersteinen» – in den Boden eingelassene Messingplatten, die an Opfer der Shoah und andere NS-Verfolgte erinnern sollen – Millionen scheffelt und sich so am Schicksal der von den Nazis ermordeten Juden bereichert.
Schwarzes Schaf
Auf deine Mail antwortete ich mit einem heiteren «gleichfalls» und erläuterte dir, dass ich jedes Mal, wenn ich etwas von dir lese oder höre, als Jude ein ungutes Gefühl habe, wie wenn sich das schwarze Schaf der Familie wieder mal öffentlich danebenbenimmt.
Meine Idee des schwarzen Schafs nahmst du auf, um ausgerechnet im obsessiv antiisraelischen Tages-Anzeiger dem jüdischen Staat in Form eines Offenen Briefs zum 75. Geburtstag zu gratulieren.
Israel, ein langjähriges Uno-Mitglied mit einer multiethnischen, demokratischen politischen Landschaft und Gesellschaft, dem du in der Vergangenheit «Landnahme, Zerstörung von Lebensgrundlagen, Schikane und Brutalität gegenüber Millionen von Unschuldigen» vorgeworfen hattest (gibt es auch Brutalität gegen «Schuldige»?), bezeichnest du in deiner «Geburtstagskarte» als «schwierigen Verwandten».
Zwar monierst du die sogenannte «Israelkritik», die es ausschliesslich für Israel gebe, jedoch «keine Syrienkritik, keine Ägyptenkritik, keine Ungarnkritik und keine Myanmarkritik» – alles Länder, «an denen es ebenfalls eine Menge zu kritisieren gäbe».
Nur um zu relativieren, dass besagte Kritik in «vielen Punkten durchaus berechtigt» sei. Was Israels «Siedler und Soldaten der palästinensischen Bevölkerung antun», sei eine «widerwärtige Schande».
Jüdischer Kronzeuge
Naja, man muss schliesslich seiner Rolle als jüdischer Kronzeuge gerecht werden. Dafür wurdest du vom Tages-Anzeiger-Journalisten Michael Marti ja geholt und bezahlt: um als eine vermeintlich «authentische jüdische Stimme», wie sie in den Redaktionen täglich herumgereicht werden, Israel zu desavouieren und die Errungenschaften und politischen Prozesse der einzigen pluralistischen Demokratie im Nahen Osten schlechtzureden.
Nach dem Motto: Wenn es ein Jude sagt, muss es ja stimmen. Wie wenn alles, was ein AfD-Politiker über Deutschland sagt, richtig wäre, nur weil er Deutscher ist.
Du dienst dich als nützlicher jüdischer Idiot denjenigen an, die sich durch die einseitige Verurteilung Israels von der Vergangenheit zu entschulden suchen, indem sie Juden als Täter anklagen, und ermöglichst ihnen, sich dabei auf einen Juden zu berufen.
In einem Tages-Anzeiger-Interview, unmittelbar nach dem 7. Oktober, fragt dich Marti – nach der scheinheiligen Frage, ob man «das Vorgehen Israels nicht infrage stellen» dürfe (als ob das nicht sekündlich geschehen würde): «Wenn man Sie zwingen würde, zu verstehen, weshalb Menschen Untaten vollziehen, wie die Hamas-Terroristen an den Besucherinnen und Besuchern des Raves in der Negev-Wüste: Was kommt Ihnen dann in den Sinn?»
Übles Spiel
Hätte er wohl auch den Eltern eines der Opfer von Anders Breivik diese Frage gestellt?
«Wenn man Sie zwingen würde, zu verstehen, weshalb Menschen Untaten vollziehen, wie der Mord von Anders Breivik an Ihrem Kind: Was kommt Ihnen dann in den Sinn?»
Für alles, was den Juden angetan wurde und wird, gibt es für Marti und den Tages-Anzeiger offenbar einen triftigen Grund, der einem Juden «in den Sinn» zu kommen hat, wenn ein Mitglied der Religion, die Juden 2000 Jahre verfolgt und ermordet hat, Auskunft verlangt.
Nicht nur das: Die Juden sind daran auch selbst schuld. Und dann muss man sie sogar noch dazu «zwingen», es zuzugeben.
Besser als Marti kann man nicht ausplaudern, worin das Spezifische im heutigen Antisemitismus besteht.
Und du spielst dieses üble Spiel mit.
Nun setzt du anlässlich des Jahrestags des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 noch einen drauf.
Hattest du dich im Oktober 2023 noch unmissverständlich zum genozidalen Blutrausch der palästinensischen Terroristen und Zivilisten geäussert, hat dich der Tages-Anzeiger nun offensichtlich dazu gebracht, zu Kreuze zu kriechen und Israel «Megaterror» vorzuwerfen.
Israels Reaktion auf die Hamas-Schlächter sei ein «blindwütiger Rachefeldzug, ohne Plan, ohne Sinn. So brutal, dass ich heute sagen muss: Der 7. Oktober war schrecklich, kann aber nicht als Rechtfertigung dafür dienen, was danach geschah».
Aber es kommt noch dicker: An Netanjahus Stelle hättest du als «Reaktion auf die Ereignisse den palästinensischen Staat ausgerufen und eine Botschaft eröffnet». Quasi als Dank für die Ermordung, Vergewaltigung und Verschleppung israelischer Zivilisten und als Ermunterung, solche Barbareien «wieder und wieder» zu begehen, wie das die Hamas mehrfach angekündigt hatte.
Vom Saulus zum Paulus
Wie du mit deinem unreflektierten Geschwurbel die Debatte vergiftest, sieht man an den Kommentaren zu deiner Philippika gegen Israel.
Da findet es eine Simone Sommerhalder «super», dass du deine «Meinung geändert» hast. Wobei sie «stören tut», dass du «frühere Kritik als reinen Antisemitismus» abgetan hattest.
Ein H.ry freut sich, dass du dich «vom Saulus zum Paulus gewandelt» hast.
Martin Locher sinniert, dass das Zugeben einer «Mitschuld» Israels eine «extreme Erleichterung für alle Überlebenden» wäre.
122 unsägliche Kommentare lang applaudiert die Tages-Anzeiger-Leserschaft, dass der störrische Jude nun endlich das tut, was er als duldsamer Jude zu tun hat: er verteufelt Israel.
Und tatsächlich zweifelst du, ob du «je wieder in der Lage» sein würdest, «diesen inzwischen so blutgetränkten Boden zu betreten».
Heftig verliebt
Dabei wolltest du sogar mal nach Israel auswandern. Dieser «Plan» wurde von deinem nichtjüdischen Vater mit einer «für ihn typischen, aber guten Frage torpediert». Dein Papi fragte nämlich, was du dann «dort unten» machen würdest.
Darauf hattest du «keine Antwort», obwohl du auch in Israel, in das du dich «heftig verliebt» hattest, hättest schreiben können.
Vermutlich hattest du auch einfach die Hosen voll. Dieses unbezähmbare heilige Land, der einzige Ort der Welt, wo Frauen Militärpanzer fahren und Terroristen platt machen, war für einen Schweizer Füdlibürger wie dich wohl einfach eine Nummer zu gross.
Und weil man vor sich selbst rechtfertigen muss, dass man am eigenen Anspruch gescheitert ist, schlägt die enttäuschte Liebe in Hass um.
Du beschränkst dich aber nicht auf bösartige Kritik an Israel, du sitzt auch im SRF-Club und beleidigst eine orthodox-jüdische Frau aufs Gröbste, indem du die Art, wie sie ihre (deine, unsere) Religion lebt, als «aggressiv» und «abstossend» bezeichnest.
Das Dilemma eines Juden, der sich in der Schweiz öffentlich äussert, ist mir durchaus bewusst.
Thematisiert man Antisemitismus, wird man von Nichtjuden, aber auch von assimilierungsversessenen jüdischen Duckmäusern gescholten, den Juden einen «Bärendienst» zu erweisen.
Kritisiert man als Jude Israel, bekommt man von wehrhaften Juden auf die Kappe, weil man – zurecht – als das wahrgenommen wird, was du als «naiver Zudiener für Antisemiten» umschreibst.
Der Allzweckjude
Es gibt ja viele Arten von Juden: Gebrauchs-, Alibi-, Duldungs- Quoten- oder Vorzeigejuden. Einzig für dich wurde eine weitere Kategorie geschaffen: der Allzweckjude.
Du bist auch ein durchaus gmögiger Jude: Du kritisierst brav Israel, verurteilst die Besatzung und bejubelst antiisraelische NGOs wie Breaking the Silence. Du machst alles richtig und trotzdem mag man dich nicht.
Seit deiner Kindheit schlägt dir Antisemitismus entgegen – auch von Freunden und Bekannten – sodass du dich genötigt sahst, ein Buch über dieses Ressentiment, das du heute selbst förderst, zu schreiben.
Woher dieser penetrante Antisemitismus kommt, will sich dir trotz intensiver Recherche nicht erschliessen, du ortest den Ursprung diffus bei «Eltern und Grosseltern».
Dabei ist es doch ganz einfach: Man nennt es Judenhass und er entstammt dem Neuen Testament, wo Juden von Paulus als «allen Menschen feind» stigmatisiert werden und gemäss Johannes «den Teufel zum Vater» haben.
Aber wenn du das schreiben würdest, gäbe es von deinem christlichen Bekanntenkreis Schimpfis, statt Lob für Israelkritik.
Antisemitische Klischees
Dass man dir vorwarf, mit deinem Bestseller «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» antisemitische Klischees bedient zu haben, kränkte dich.
Das sei eine «falsche und bösartige Lektüre meines Buchs». Du seist Jude und in der «unfreiwilligen Folge ein Experte für diese Problematik». Deiner Arbeit Antisemitismus zu unterstellen, sei «lächerlich».
Natürlich betreibst du nicht den klassischen Judenhass (seit Wilhelm Marr nennt man ihn Antisemitismus), ein Ressentiment, dass sich jeglicher Logik entzieht und sämtlichen Fakten verweigert.
Bei dir handelt es sich um eine Spielart dessen, was Theodor Lessing in seinem 1930 erschienenen Buch «Der jüdische Selbsthass» beschreibt, in dem er den jüdischen Antisemitismus als «psychopathologisches Problem» erkennt und anhand von Beispielen belegt.
Jüdisches Trauma
Jude zu sein, war nicht erst zu Zeiten der Nazis ein Todesurteil. Dieses Trauma, aus Überlebensangst nicht dem Judentum angehören zu wollen, sich von ihm zu distanzieren und es schlechtzureden, ist bis heute tief in der jüdischen Erinnerung verankert und eine massgebliche Quelle des jüdischen Selbsthasses.
Bei dir kommt erschwerend dazu, dass nur ein Elternteil jüdisch ist. Es ist zwar die Mutter, du bist also nach jüdischem Gesetz Jude, doch ein Makel bleibt, ein ständiges Unbehagen, nicht zu genügen, das man keinesfalls unterschätzen sollte.
Selbstverständlich können alle über alles denken und schreiben, was sie wollen, aber man sollte doch bei den Fakten bleiben. Gerade, wenn man es zulässt (und sich auf eine verquere Art wohl auch gebauchpinselt fühlt) immer und überall als Sachverständiger für Judenfragen hinzugezogen zu werden.
Ein Tipp: Die Burka ist mit «jüdisch-orthodoxer Kleidung» nicht vergleichbar, warum nicht, können dir Ayaan Hirsi Ali oder Hamed Abdel-Samad erklären.
Du schreibst Beziehungsratgeber, Taschenlexika, Kinderbücher, Romane und Kolumnen über Gott und die Welt und fühlst dich berufen, zu allem und jedem etwas zum Besten zu geben.
Wer hat´s erfunden?
Dreht es sich allerdings um Juden, verdüstert sich dein Tunnelblick auf zwei Themen: Nahostkonflikt und Antisemitismus. Dabei haben die Juden mit ihrer fast 5000 Jahre alten Geschichte einiges mehr zu bieten.
Weltweit nehmen Leute Aspirin, sehen Tonfilme, mailen über Glasfaserkabel und halten an Verkehrsampeln: Wer hat’s erfunden?
Bis Anfang der 1930er Jahre machten die Patente jüdischer Erfinder Deutschland zur führenden Industrienation Europas.
Deutsche Juden erfanden den rostfreien Stahl, die Schwingachse, die drahtlose Telegrafie, das Tempo-Taschentuch und die Schallplatte. Nach 1945 verhalf der Erfindungsreichtum jüdischer Emigranten den USA zu einem beispiellosen Aufschwung.
Dem Erfindungsgeist jüdischer Einwanderer und Amerikaner entsprangen die Nähmaschine, der Videorekorder, der legendäre 8080 Mikroprozessor von Intel, die Fernbedienung und die Blue Jeans. Heute ist Israel das Epizentrum der Innovation.
Warum hast du noch nie über die unzähligen ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften von Juden in- und ausserhalb Israels geschrieben?
Über den USB-Stick, den israelischen Landkartendienst Waze, der von Google gekauft wurde, über das innovative israelische Tröpfchenbewässerungssystem und die Aufbereitung von salzigem Meerwasser, über die Jerusalemer Firma Mobileye, die Sichtsysteme für selbstgesteuerte Autos herstellt und von Intel gekauft wurde, über israelische Künstler, Sportler, Musiker, Schauspieler, Regisseure, Literatur oder Kulinarik (Stichwort Cherrytomate)?
Aber klar, mit Good News über Juden lässt sich kein Geld machen, Israelkritik von einem Juden ist da einiges lukrativer.
Die jüdische Geschichte und Kultur sind so unendlich vielschichtiger, als die ewig wiedergekäuten Schlagworte und Stereotype. Aber mit dem Judentum hast du deine liebe Mühe.
Enttäuschter Liebhaber
Du bezeichnest dich zwar als «stolz», Jude zu sein und dein Unique Selling Point ist ja auch, dass du Jude bist.
Trotzdem benimmst du dich dem Judentum gegenüber wie ein enttäuschter Liebhaber, der täubelt, dass seine Angebetete den eigenen (oftmals überzogenen) Ansprüchen nicht gerecht werden konnte, eine Reaktion, die dir als Verfasser von Beziehungsratgebern eigentlich geläufig sein sollte.
Was deine jüdische Abstammung und das Judentum an sich anbelangt, taumelst du von Standpunkt zu Standpunkt, verstrickst dich in Widersprüche, ziehst falsche Schlüsse und fällst dir dabei permanent selbst ins Wort, um dich letztlich fundamental misszuverstehen.
Dümmlicher Kitsch
Vermutlich, weil du über das Judentum gerade so viel weisst, um Romane zu schreiben, die der Judaist und Literaturwissenschaftler Caspar Battegay in der ZEIT als «dümmlichen Kitsch» abtut.
Deine literarischen Ergüsse stürmen aber die Bestsellerlisten, weil Nichtjuden darin ihre liebgewonnenen jüdischen Klischees bestätigt finden und nun von dir den Koscher-Stempel bekommen haben, endlich mal herzhaft über diese verschrobenen Krummnasen und ihre absonderlichen Bräuche lachen zu dürfen.
Ich habe ja durchaus Verständnis für deine intrinsische jüdische Identitätskrise, dass du «manchmal tatsächlich gern ein bisschen jüdischer» wärst, dass du «letztlich nirgends richtig dazu» gehörst, «nicht beim Judentum, und bei den Nichtjuden ohnehin nicht», dass du «zwischen den Welten wandern» musst.
Aber ich vermute mal, für einen Mann
– der seine Freundin verliess, als das gemeinsame Kind gerade mal vier Monate alt war
– der sich dem woken Zeitgeist mit einer derart servilen Unterwürfigkeit anbiedert, dass er den Indianer, den er sich als 19-Jähriger auf den rechten Oberarm tätowieren liess, weil er «das Motiv einfach schön» fand, heute als «Übernahme von fremdem Kulturgut» geisselt, auf das er «letztlich kein Anrecht» hätte
– der sich in einem Podcast zur Frage des übermässigen Alkoholkonsums mit seinem achtjährigen Sohn vergleicht, der ja «auch ohne Alkohol» glücklich sein könne
– der sein Äusseres in einer Mischung aus Geltungssucht und Selbstsabotage mit exzessiven Tattoos, windschiefen Frisuren und grotesken Brillen verschandelt, sich aber Masskleidung schneidern lässt
– der nicht so recht weiss, ob er nicht doch lieber schwul sein, oder vielleicht erst bi ausprobieren möchte
– der noch nie eine Frau angesprochen hat, noch keinen One Night Stand hatte und während seiner Zeit auf Tinder nicht einer einzigen Frau einen «Match» wert war, sich aber anmasst, Beziehungstipps zu geben
für so einen Mann dürfte die Tatsache, dass er jüdisch ist, das kleinste Problem darstellen, meinst du nicht auch?
Mit makkabäischem Gruss
David