
Eine Kolumne von Yannick ZiehliDer Bart ist ab, die Freiheit lebt
Manche mögen ihn lang, manche kurz, andere wiederum gestriegelt, einige mögen ihn gar nicht: der Bart.
Als alternder Teenager strebte ich dem jungen Erwachsensein entgegen und erfreute mich meiner neuen Möglichkeiten, wie uneingeschränkten Klubbesuchen oder das Autofahren. Entsprechend sollte das Erscheinungsbild bestenfalls mit den neu errungenen Kompetenzen übereinstimmen.
Doch der Bart sträubte sich gegen das optische Altern und wollte mir beim Erringen der äusserlichen Legitimität nicht beistehen. Der durchsichtige Flaum vermochte es nicht, die Konturen des Gesichtes so zu akzentuieren, dass der Wandel vom Pubertierenden zum selbstbewussten jungmännlichen Individuum von aussen erkennbar war. Im Gegenteil.
Das mühsame Rasieren des nicht ansatzweise entwickelten Bartes verstärkte nur noch die Reizung der sich darunter aufbäumenden Akne. Anstatt selbstsicher in die Klubs zu gehen, musste ich mich für den Kauf von Bier ausweisen.
Der Bart kam aber, eher spät als früh. Und sogleich er da war, musste er wieder ab. Denn in verschiedenen Situationen wurde er zur Ausübung heuchlerischer Autorität missbraucht. Die «Rasurkontrolle» in der Armee war ein tägliches Ritual, bei der sogar Restbestände von Flaum drakonische Bestrafungen mit sich zogen. Auch in späteren Berufen sollte der Bart «gepflegt» getragen oder ab sein.
Eine Pain für all jene, die den 3-Tage Bart und die damit verbundene Freiheit feiern. Doch die Zeiten änderten sich. Der kurze Bart setzte sich mit seinem unnachlässigen Nachwachsen durch und es ist mir heute noch nicht ganz klar, ob mein berufliches Umfeld sich gelockert hat oder ob ich rebellischer wurde. Jean-Jacques Rousseau, der die Idee der natürlichen Freiheit propagierte, hätte diesen Umstand vielleicht als eine Metapher für den ungezähmten Menschen interpretiert. Mit dem Gefühl der Freiheit im Rücken entschloss ich mich nach langen Jahren des ungezähmten Barttragens, ihn abzurasieren.
Ironischerweise empfand ich dabei ein euphorisches Gefühl der Freiheit, ein klein wenig nicht mehr so zu sein, wie es die Leute in meinem Umfeld von mir erwarteten.
Die Radikalität der Aktion bleibt aber bescheiden. Der Bart ist vor dem Verfassen dieser Worte bereits wieder nachgewachsen.
Die Freude über das Gefühl entscheiden zu können, ob er lang, kurz, gestriegelt oder weg sein soll, ist geblieben.