
Der Fluch des Nachdenkens:Wer zu viel denkt, ist nicht
Eine Kolumne von Yannick Ziehli
Nachdenken kann ein Segen sein – und doch: Wer sich zu lange im Konjunktiv aufhält, verliert das Jetzt. Ein Plädoyer für das Leben jenseits der inneren Kommentarfunktion.
Man steht im Laden vor einem Regal und fragt sich: Brauche ich das wirklich? Oder will ich nur etwas wollen? Denken ist ein Reflex – aber auch ein Stolperstein. Denn wer zu viel denkt, fängt an, die Gegenwart zu analysieren, statt sie zu erleben.
Die semantische Konsequenz ist das Versumpfen im Konjunktiv: könnte, müsste, sollte. Dieser Umstand kostet nicht nur viele Chancen, sondern birgt auch Risiken. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, sagte einst Gorbatschow am 6. Oktober 1989 – wenige Wochen bevor die Mauer fiel.
Ungeachtet der Konsequenzen verstreicht die Zeit gnadenlos und überlässt die Unentschlossenen dem schicksalshaften „Was wäre gewesen, wenn“. Impulsivität und Spontanität geben einem das Gefühl des Erfahrens, des Lebens. Sie fördern Kreativität und Lust.
Natürlich bergen sie auch Gefahren – aber, wie Miles Davis es sagte: „Do not fear mistakes – there are none.“ Allerdings ist es eine gefährliche Romantisierung, in jedem Impuls eine Offenbarung zu vermuten – wie uns aktuell gewisse Präsidenten und ihre geostrategischen Launen eindrücklich vor Augen führen.
Nicht jeder, der improvisiert, schreibt ein Meisterwerk. In der Musik entsteht Grösse oft aus Übung und Offenheit – nicht aus Laune. Und in der Politik können impulsive Entscheidungen ganze Länder erschüttern.
Vielleicht beginnt das wahre Denken genau da, wo wir für einen Moment aufhören, uns selbst zu erklären. Und vielleicht ist man erst dann wirklich, wenn man nicht mehr so sehr darum bemüht ist, zu sein.
Nicht jeder Impuls ist ein Fehler – und nicht jeder Gedanke eine Rettung. Manchmal reicht es, den Einkaufszettel zu vergessen und trotzdem satt zu werden.