
Mensch-Sein am BergNachhall einer geschiedenen Hirtin an alle Älpler*innen
Ein Gastbeitrag von Anne Wecking
Das Fell meiner Kühe glänzt wie rabenschwarze Seide. Bis vor zwei Tagen noch habe ich die Tiere betreut: 140 Klauen auf Trockenrasen südlich von Ried-Brig. Dort, wo die italienische Grenze über den Berggrat von Monte Leone blinzelt, hatte ich angedacht die Zeit meiner Sömmerung zu verbringen und zwei Herden Eringer-Kühe zu betreuen. Dass hinter der scheinbaren Idylle aus Bergpanorama und Treichel-Geläut schwere Arbeit liegen würde, war mir bewusst.
Vier Monate hatte ich mich auf die Saison vorbereitet. Von Nährstoffinfusionen über wöchentliche Einheiten mit meiner Physiotherapeutin bis zur Sportleistungskontrolle an einem Olympiastützpunkt – ich nahm das Vorhaben ernst, so ernst sogar, dass ich selbst meinen Kalorienbedarf akribisch berechnet und fünfzehnhundert Franken für Grundnahrungsmittel ausgegeben hatte.
Mit 120 kg dieser Energie bestückt, Neugierde und Vertrauen verbrachte ich erste Tage am Berg. Wirklich schief gehen konnte nichts; zumindest nichts, was meiner Kontrolle unterlag, oder?
Schnitt. Sechs Wochen später sitze ich wieder daheim, bin entkräftet und ausgezerrt. An den Kühen liegt mein Zustand nicht. Die Tiere haben wundervoll mitgearbeitet. Das Wetter bot mir ebenfalls keinen Grund: Die Sonne, die wollte nicht aufhören zu scheinen und von den Gipfeln tropfte letzter Schnee so malerisch wie Farbe von der Pinselspitze eines Künstlers. Doch hatte meine Gleichung den Faktor Mensch unterschlagen. Nicht quantifiziert, was auf dieser Ebene schief gehen kann. In meinem Fall: unklare Kommunikation, unzuverlässige Versorgung, Unterbrechung von Pausenzeiten – vor allem aber einer Atmosphäre voller sexualisierter und sexualisierender Energie.
Die Sömmerung 2025 sollte mein erster Alpsommer sein. Ein Neuling in der Landwirtschaft, das war ich allerdings nicht. Dreizehn Jahre hatte ich bereits (als Frau) im Agrarbereich verbracht. Eine solche Dichte an sexuellen Äußerungen, Herabwürdigungen, Anzüglichkeiten, klebrigen Witzen und Blicken hatte ich bislang nirgends erlebt. Auf meiner Kuh-Alpe jedoch machte diese Art 85% meiner Interaktionen mit Männern aus. Meine Arbeitgeber taten den Umstand als Walliser Art ab. Selbst die Übergriffigkeit eines Mannes auf meiner Haut, an meinem Körper wurde von ihnen verwaschen und ich im Nachhinein angeschuldigt, den Vorfall nicht rechtzeitig gemeldet zu haben.
Die Erfahrungen der letzten Wochen haben mich psychisch wie körperlich degradiert. So sehr, dass ich die Alpsaison aus Sorgen über meine Gesundheit und Sicherheit abbrechen musste. Für meine Arbeitgeber war die Kündigung offenbar freiwillig. Für mich jedoch ist sie es nicht. Ich war gekommen, um zu bleiben – unter normalen Umständen. Stand heute ist, dass mir ein Drittel meines Lohns vorenthalten wird. Die abschließende Abrechnung meiner Arbeitgeber ist unzureichend, selbst das öffentliche Recht (OR) 337 sagt anderes. Durch die sexuelle Belästigung ist meine Kündigung gerechtfertigt. Wie aber dieses Recht nun durchsetzen? Als Frau gegen eine Interessengemeinschaft aus Männern und dazu als Ausländerin mit bereits gekündigtem Aufenthaltsstatus? Meine finanzielle Situation wird sich wohl allein durch ein internationales Verfahren auflösen lassen. Etwas, das ich gewillt bin zu tun. Und zugleich etwas, vor dem ich andere Älper*innen bewahren möchte.
Daher hier ein Nachhall, ein Echo, das zwischen den Bergwänden vibrieren darf: Der Faktor Mensch – er scheint mir die wichtigste Variable in der Gleichung Sömmerung zu sein. Von geschätzt bis gefährlich. Von gütig bis so wechselhaft wie die Winde eines aufziehenden Gewitters. Er mag vielerlei Facetten annehmen. Zu unterschätzen ist der Faktor Mensch zu keiner Zeit. Weder im Guten, noch im Schlechten. An alle Älpler*innen: bitte erwartet Menschlichkeit und setzt Euch dafür ein. Lehnt entwürdigendes Verhalten deutlich ab. Treten diesem entgegen, selbst wenn Eure Grenzsetzung Repressalien oder sogar Vertragsbruch bedeuten würde. Erduldet sexuelle Übergriffigkeit niemals, haltet sie nicht aus, habt den Mut Nein zu sagen. Laut und sehr deutlich. Stellt unzuverlässige, rücksichtslose, unmenschliche oder eben auch übergriffige Arbeitgeber und Arbeitsumfelder heraus. Keiner von uns möchte für solche Personen und/oder unter solchen Bedingungen arbeiten.
Die Geschichten, die auf meiner Kuhalpe über meine Vorgänger, bestehende Umgangsformen und Arbeitsbedingungen kursieren, die hätte ich gerne im Vorfeld erfahren. Man wolle nichts schlecht reden, hieß es. Mich nicht entmutigen. Nun,… am Tag meiner Abreise läuteten nicht nur die Treichel der Kühe in der Ferne, sondern 400 Höhenmeter über mir auch die Glocken von Schwarznasenschafen. Der Hirt dort, er war bereits zum achten Mal wiedergekommen.