
Vom Schützengraben zum LiederbogenRobin Hood im Rugenwald
Von Yannick Ziehli
Die Tellspiele in Interlaken wagen sich auf neues Terrain – mit einem mittelalterlichen Helden, der für Gerechtigkeit kämpft und dabei die Herzen des Publikums gewinnt.
Es ist ein milder Sommerabend in Matten bei Interlaken. Der Regen bleibt aus und der Rugenwald atmet noch ein wenig Wärme, während die Scheinwerfer die Naturbühne in ein goldenes Halbdunkel tauchen. Kinder naschen Popcorn, Eltern zücken Programmhefte. Die Tribüne ist gut gefüllt. Dann erklingt eine klare, kraftvolle Stimme, die singend das erste Kapitel einleitet: Robin Hood ist zurück. Oder besser gesagt: angekommen – in der Schweiz, auf der Bühne der traditionsreichen Tellspiele.
Statt Armbrust diesmal Pfeil und Bogen und ein Wald voller Banditen, die sich dem Sheriff von Nottingham widersetzen. Zwar wechselt der Mythos das Gewand, doch seine Motive bleiben im beharrlichen Streben nach einer gerechteren Welt.
Über ein Jahrhundert lang war Wilhelm Tell hier der unangefochtene Held der Bühne. Seit vergangenem Jahr aber streift wieder der englische Rächer der Enterbten durch den Rugenwald. Eine bewusste Neuausrichtung, die auch in ihrer zweiten Spielzeit überzeugt.
Ein Freilichtabenteuer mit Witz und Wirkung
Die Inszenierung ist energiegeladen und zugänglich. Auch wenn die Freilichtbühne ihre Herausforderungen hat, so wurden sie durch die Wahrnehmung ihrer Chancen, die sie bietet, in den Schatten der Spezialeffekte gestellt. Rauch, Flammen, Reiterstaffeln, Gesangseinlagen wären leicht als Spektakel abzutun, wenn es nicht so stimmig inszeniert wäre. Die Übergänge zwischen den Szenen gelingen dank einer konstant starken Sängerin, die als musikalisches Rückgrat durch den Abend führt.
Das Stück selbst erzählt die altbekannte Geschichte vom Adel, der vergisst, was es heisst, Volk zu sein und von einem, der sich das nicht gefallen lässt. Robin Hood ist hier kein Fabelwesen, wie ihn Disney einst zeichnete, sondern ein charismatischer Anführer mit Ecken und Haltung. Er stiehlt nicht nur den Reichen ihr Geld, sondern auch dem Publikum das Herz. Gerade weil seine Vorstellung von Macht eine überraschend moderne Handschrift trägt.
Tell taucht auf – inkognito
Trotz aller Neuausrichtung bleibt Tell präsent. Nicht als Hauptfigur, sondern als kluge Referenz. In einer Szene, die in ihrer Ironie kaum schöner hätte sein können, verweigert ein schweizerischer Schütze dem Sheriff von Nottingham den Befehl zum Mord. Er nennt sich Wilhelm von Interlaken, hält sich ans Kriegsrecht und wird prompt zum Sündenbock. Wer die Geschichte kennt, erkennt den doppelten Boden. Und wer ihn nicht kennt, spürt dennoch, dass hier mehr ist als nur Unterhaltung im Spiel.
Ein Theater, das seine Vergangenheit befragt
Die Tellbühne ist kein leeres Spielfeld. Sie ist Kulisse mit Geschichte und Herausforderung zugleich. Die mittelalterlichen Bauten, einst für Tell geschaffen, stehen noch immer und fordern die Kreativität der Regisseurin Tiziana Sarro, um ihnen den englischen Touch zu geben, den Robin Hood für seine Identität braucht. „Wir müssen mit dem spielen, was da ist und das Beste daraus machen“, sagt sie im Gespräch. „Gerade das kann unglaublich inspirierend sein.“ Die neue Inszenierung nutzt sie geschickt, und manchmal, so glaube es der Zuschauer, mit dem leisen Wunsch, etwas weiter weg vom Altbekannten zu rücken. Es ist wie ein Echo, das noch klingt, aber nicht mehr dominiert.
Diese Gratwanderung zwischen Tradition und Aufbruch gelingt nicht allen Theatern. Hier aber doch. Nicht zuletzt, weil man sich auf den Humor des Stoffes eingelassen hat und moderne Ansichten charmant in die Geschichte einfliessen liess. Vielleicht ist das der eigentliche Fortschritt.
Zwischen Mittelalter und Gegenwart
Auch sprachlich erlaubt sich das Stück moderne Zwischentöne. So kündigt der Sheriff von Nottingham im Brustton der Überheblichkeit eine Steuererhöhung von zwölf Prozent an. Ein Satz, der beim Schweizer Publikum mit Blick auf die neuen US-Zölle leise Heiterkeit provoziert. Auch später beweist sich der Sheriff in gereifter Eloquenz: „Die Zeit ist ein restloser Gesell.“ Ein Aphorismus, der in einem Theaterstück über Umsturz und Vergänglichkeit mehr ist als ein Bonmot.
Fazit: Eine Reise lohnt sich
„Robin Hood“ in Interlaken ist kein revolutionäres Theater, aber eines, das sich traut, das Altvertraute zu öffnen. „Theater ist immer auch ein Gespräch mit der Zeit, in der es gespielt wird“, sagt Tiziana Sarro. In Interlaken klingt dieses Gespräch warm und zugänglich nach. Die Familienfreundlichkeit bleibt gewahrt, die Botschaft ebenso. Wer sich auf den Weg macht, bekommt einen unterhaltsamen, stellenweise berührenden Abend. Und vielleicht einen neuen Blick auf alte Erzählungen.
Noch bis zum 6. September streift Robin Hood durch den Rugenwald – mit Pfeil, Bogen und einer Botschaft, die aktueller ist, als man vermuten würde.