
Im Dschungel der Zahlen
Eine Kolumne von Thomas Baumann
Wenn Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, gerade etwas Kleingeld übrig haben und Ihnen eine Wette angeboten wird, bei der sich über Nacht mit je 50% Wahrscheinlichkeit das eingesetzte Vermögen verdoppelt oder halbiert – sollten Sie da einschlagen?
Die Antwort ist: Ja. Denn die 50% Gewinn und Verlust heben sich nicht etwa auf, wie man auf den ersten Blick vielleicht glauben könnte. Rechnen hilft:
Wenn Sie 100 Franken investieren, haben Sie mit 50% Wahrscheinlichkeit morgen 200 – und mit 50% Wahrscheinlichkeit nur noch 50 Franken.
0.5 * 200 + 0.5 * 50 = 100 + 25 (=125)
Wenn sich das Vermögen mit einer Wahrscheinlichkeit von je 50% halbiert oder verdoppelt, dann macht man im Erwartungswert 25% Gewinn. So eine Wette lohnt es sich einzugehen.
Wertet der Franken um 50% auf, wertet der Euro um 33% ab
Falls Sie das Ergebnis auf den ersten Blick überrascht – keine Angst, manchmal geht es auch Profis so. Wie zum Beispiel dem Wirtschaftsredaktor Daniel Zulauf von CHMedia. Den Fehler in der gedruckten Version, dass eine Abwertung des Euro von 1.60 auf einen Franken pro Euro in den letzten rund zwanzig Jahren eine Abwertung von „rund 60%“ sei, korrigierte die Redaktion in der Online-Ausgabe relativ schnell auf die korrekte Zahl von „rund 40%“.
Aber bei den Hamburgern merkte es auch die Redaktion nicht. Die Argumentation geht so: Eigentlich müsste der Big Mac überall gleichviel kosten. (Was übrigens barer Unsinn ist. Jeder weiss, dass man im Restaurant nicht für das Fleisch, sondern vor allem für den Sitz bezahlt. Das gilt ebenso für den schnell verzehrten Hamburger, wie für das Chateaubriand beim edlen Franzosen.) Ein Big Mac kostet im Euroland aber 4.42 Euro und in der Schweiz 6.50 Franken. Dies entspricht einem impliziten Wechselkurs von 1.47 Franken. Der reale Wechselkurs beträgt heute aber nurmehr rund einen Franken oder (angeblich) 50% (47%) weniger. Also schlussfolgert unser Redaktor: „Die Familie Schweizer bekommt ihren Big Mac in Europa zum halben Preis.“
Dass der Franken heutzutage rund Parität zum Euro aufweist, erleichtert die Rechnung: 4.42 ist nicht der halbe Preis von 6.50 Franken. Offensichtlich nicht. Die Hälfte von 6.50 ist schliesslich 3.25. Der Rechenfehler ist wiederum: Wenn etwas von 1.5 auf 1 fällt, dann fällt es nicht um die Hälfte, sondern bloss um einen Drittel: 1.5/1 = 0.67. Tatsächlich geht die Rechnung ziemlich genau auf: 4.42/6.50=0.68. Familie Schweizer bekommt den Big Mac nicht zum halben, sondern zu zwei Dritteln des (vormaligen) Preises in Schweizer Franken.
Doch unser Redaktor lässt nicht locker: Auf der Basis des „Hamburger-Wechselkurses“ von 1.47 zum Euro, sei „der Franken zum Euro um nahezu 50 Prozent überbewertet. Im Vergleich zu unseren Nachbarn geniessen die Eidgenossen auf Europareise den Big Mac zum halben Preis.“ Wieder verheddert er sich: 50% plus von der anderen Seite her betrachtet, ist eben nicht 50% minus, sondern bloss 33% minus. Wenn der Schweizer Franken gegenüber dem Euro um 50% überbewertet ist, dann ist der Euro gegenüber dem Schweizer Franken nicht um 50% unterbewertet, sondern nur um 33%.
Die Krux mit der Wertschöpfung
Soweit der Zahlensalat. Nun versucht sich unser Redaktor in volkswirtschaftlichen Erklärungen: Wie schaffte es die schweizerische Volkswirtschaft, die Verteuerung der eigenen Währung so gut wegzustecken? „Dass sich die traditionell überaus wertschöpfungsintensiven Branchen wie die Pharmaindustrie mit dieser Situation relativ leicht zurechtfinden könnten, stellt keine Überraschung dar“, so Redaktor Zulauf. Tönt logisch. Denn „wertschöpfungsintensiv“ tönt irgendwie nach: hochprofitabel. Nur: volkswirtschaftlich bedeutet Wertschöpfung, dass den in die Produktion einfliessenden Vorprodukten durch die Arbeit von Mensch und Maschine viel Wert zugefügt wird. Arbeit ist aber in der Schweiz teuer – und durch die Aufwertung gegenüber den Nachbarländern verteuern sich die schweizerischen Arbeitskräfte noch mehr. Denn die Löhne in der Schweiz werden ja auch nicht in Euro bezahlt.
Und was die als Beispiel angeführte pharmazeutische Industrie betrifft: Tönt ebenfalls logisch. Die Gewinne sprudeln, die Aktienkurse steigen. Der Pharmaindustrie geht es gut. Und dass die pharmazeutische Industrie nicht nur hochprofitabel ist, sondern in den letzten zwanzig Jahren auch das grösste Wachstum aller Branchen aufwies, zeigen die statistischen Daten. Aber wertschöpfungsintensiv? Die Zahlen geben wiederum die Antwort: Die Bruttowertschöpfung am gesamten Bruttoproduktionswert der Pharmaindustrie beträgt etwa 35%. Dies ist deutlich niedriger als die gesamtwirtschaftliche Quote von rund 48%, was vor allem damit zu tun hat, dass in Industriebranchen von Natur aus weniger wertschöpfungsintensiv produziert wird als in den Dienstleistungsbranchen. Die pharmazeutische Industrie ist also bei volkswirtschaftlicher Betrachtungsweise keine wertschöpfungsintensive Branche.
Dass Wachstum und Wertschöpfung nichts miteinander zu tun haben müssen, zeigt ausgerechnet das Beispiel der Kunststoffbranche, das CHMedia-Redaktor Zulauf ebenfalls anführt: In den letzten zwanzig Jahren ist diese Branche kaum gewachsen – der Wertschöpfungsanteil an der Produktion ist aber (leicht) höher als bei der pharmazeutischen Industrie. Überhaupt gilt: Die Branchen mit dem stärksten Wachstum wiesen in den letzten Jahren einen insgesamt leicht unterdurchschnittlichen Anteil der Wertschöpfung an der Produktion auf.
Obwohl der Begriff Wertschöpfung in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung präzise definiert ist und sich daraus eine ebenso klare Definition von „wertschöpfungsintensiv“ ergibt, geistern auch andere Definitionem durch die volkswirtschaftliche Literatur. So meint Luzern Statistik, dass die „wertschöpfungsintensiven Branchen“ die „High-Tech- und wissensintensiven Branchen“ umfassten. Zu den „wissensintensiven Branchen“ gehören dann zum Beispiel auch Heime und das Sozialwesen. Nicht gerade Branchen, die durch das Stahlgewitter der Weltmärkte fit getrimmt durch die Welt gehen. (Aber Wachstumsbranchen ohne Zweifel – was aber vor allem mit falschen Anreizen zu tun hat.)
Der Redaktor kann es auch besser
Abgesehen von diesen Fehlern weist der Artikel von Daniel Zulauf aber durchaus auch interessante Passagen auf. Ebenso sei auch sein unlängst veröffentlichter Artikel „Trotz vier Millionen Einkommen koste ich die AHV Geld“ empfohlen. Der Artikel ist zwar hinter einer Bezahlschranke, aber die Ergebnisse lassen sich mit ein wenig Mathematik auch selbst herleiten: Nur Einzelpersonen, die jedes Jahr (also auch während des Studiums usw.) im Durchschnitt mehr als 150’000 Franken verdienen, zahlen mindestens ebensoviel in die AHV ein, wie sie eines Tages im statistischen Durchschnitt als Rente beziehen werden. Für Ehepaare liegt die entsprechende Schwelle bei etwas über 220’000 Franken – Jahr für Jahr. Damit sind Löhne „von heute“ gemeint. Vor langer Zeit erhaltene Saläre sind dabei auf das heutige Lohnniveau hochzurechnen. Doch dies ändert nichts an der Schlussfolgerung: Die AHV ist nichts anderes als ein gigantisches Schneeballsystem, bei dem geschätzt mindestens 90% aller gegenwärtigen und zukünftigen Rentenempfänger nicht den Beitrag einbezahlt haben, den sie später als Rente erhalten (werden).