
Markus Somm auf Abwegen
Ein Kommentar von Thomas Baumann
Der linke Bundesrat Berset hat die Geschichte der Linken offenbar besser studiert als der promovierte Historiker und Ex-Linksaussen Markus Somm.
Vielleicht ist Nebelspalter-Verleger Somm ja einfach noch nicht in der Geschichte der Neuzeit angekommen – oder aber ein promovierter Ökonom ist ceteris paribus gescheiter als ein promovierter Historiker. Offenbar gilt dies auch für einen promovierten linken Ökonomen wie Berset…
Wer sich auch nur ein klein wenig mit der Geschichte der politischen Linken befasst, dem dürfte der wohl grösste Sündenfall der Linken in der Geschichte nicht entgangen sein: Die fast einhellige Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten zu den deutschen Kriegskrediten 1914.
Am 1. August 1914 erklärte Deutschland Russland der Krieg, am 3. August 1914 Frankreich. Am 4. August brüllte der deutsche Kaiser im Reichstag: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“
In einem Taumel der Erregung stimmte der Reichstag an jenem Tag geschlossen – mit nur zwei Enthaltungen – für die Kriegskredite. Sozialdemokraten, die den Krieg ablehnten, wurden in den nächsten Jahren nach und nach aus der Partei ausgeschlossen.
Selbstverständlich wurde auch der deutsche Angriffskrieg im 1. Weltkrieg als „Verteidigungskrieg“ bezeichnet – so wie Militärausgaben ja überall „Verteidigungsausgaben“ heissen.
Wenn die Linke ihren traditionellen Pazifismus aufgibt und einen Krieg für eine gute und gerechte Sache hält, dann ist etwas faul im Land. Wenigstens sind sie Wendehälse. Denn entweder verbiegen sie sich aus opportunistischen oder anderen niedrigen Gründen (und verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit) oder sie haben sich bisher ganz einfach geirrt – wo sich dann wiederum unweigerlich die Frage stellt: Wenn linke Positionen, selbst eingestanden, offenbar nichts anderes ein Irrtum sind – braucht es dann überhaupt noch Linke?
Gibt die Linke ihren traditionellen Pazifismus auf, dann ist das, als würde die FDP der Marktwirtschaft abschwören und den Kapitalismus überwinden wollen: Entweder ist die Partei gänzlich dem Wahn verfallen oder aber sie hat jahrzehntelang das Falsche gepredigt.
Der linke Pazifismus ist nicht irgendein verzichtbares Attribut, ein Mäntelchen, das man sich aus purem und naivem Gutmenschentum umhängt, so wie man sich links nur zur oft als besonders menschenfreundlich versteht. Ebensowenig wie dem Bekanntnis zur Marktwirtschaft der FDP irgendetwas Zufälliges anhaftet.
Pazifismus gehört genau so zur linken Identität wie der Internationalismus: der Schlachtruf „Internationale Solidarität“, das Arbeiterkampflied „Die Internationale“, die „Internationale Arbeiterassoziation“ oder „Sozialistische Internationale“. Mehr international geht nicht. Alles unter dem Motto: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Die Linke war gegen den Krieg, weil sie den Krieg so deutete: Es sind nicht die Fabrikherren, Oligarchen oder Aristokraten, die in den Schützengräben sterben – es sind nicht Deutsche oder Russen, die Franzosen oder Ukrainer töten, sondern letztlich Arbeiter, die Arbeiter töten.
So war es im 1. Weltkrieg, so war es im 2. Weltkrieg und so ist es heute in der Ukraine. Die Linke glaubt (neuerdings einmal mehr), mit den Waffen einen ausländischen Despoten zu bekämpfen – letztlich schiessen damit jedoch ganz konkret Arbeiter auf Arbeiter.
Der traditionelle linke Pazifismus mag naiv sein, aber er ist immerhin weltanschaulich sauber fundiert. Die Linke verstand Nationalismus und Krieg immer als ein Mittel, mit dem die Kapitalistenklasse die Arbeiterschaft gegeneinander auszuspielen und zu schwächen versuchte. Und so war als Gegenpol zum „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ der Pazifismus quasi das höchste Stadium der internationalen Solidarität.
Auch sonst stellt die Linke ja immer Klasse vor Nation. Bei der Konzernverantwortungsinitiative galt: Der Lohn ausländischer Arbeiter ist wichtiger als der Profit einheimischer Unternehmer. (Und sogar wichtiger als die Rente einheimischer Arbeitnehmer, liegen doch in den Pensionskassenvermögen einheimischer Arbeiter grosse Aktienpakete ebendieser Unternehmen.)
Dass die Linke die Armee abschaffen wollte, ist auch noch gar nicht so lange her. Und jetzt ist plötzlich fertig mit Pazifismus, jetzt stehen auf der einen Seite der Schützengräben angeblich die Guten und auf der anderen Seite die Schlechten.
Es mag gute Gründe für einen eindeutigen Positionsbezug im Ukraine-Krieg geben. Die Linke mag diesen in diesem Fall sogar stillschweigend mittragen. Aber der Geisteswandel und die explizite und deutliche Absage an den Pazifismus erfolgt in atemberaubenden Tempo. Und erinnert in dieser Geschwindigkeit mehr als nur ein wenig an die Ereignisse Anfang August 1914 in Deutschland, als aus „vaterlandslosen Gesellen“ plötzlich „Patrioten“ wurden.
Oder wie es Bundesrat Berset formulierte: „Das aktuelle Klima erinnert mich an das Klima zu Beginn des 1. Weltkriegs. (…) Ich spüre auch heute diesen Kriegsrausch in gewissen Kreisen.“ Im Bezug auf die Linke hat er völlig recht. Und Somm mit seiner Kritik Unrecht.