
Statistik-Pfusch
Eine Kolumne von Thomas Baumann
Der Journalist Stefan Millius vermutete unlängst in einem Artikel einen Zusammenhang zwischen der Impfquote und der Geburten- und Sterberate: „Hohe Impf-Quote senkt Geburten-, erhöht aber Sterberate: Was aussieht wie ein Zufall, könnte in Taiwan einen Zusammenhang haben“.
Falls sich noch jemand fragt, warum sich Zeitungen Korrespondenten am anderen Ende der Welt leisten: Der vorliegende Fall gibt die Antwort darauf.
Ihr Kolumnist war im Jahr 2020 acht Monate in Taiwan. Daher kennt er das Land etwas – zumindest etwas besser als Stefan Millius.
Also schreibt Stefan Millius: „Noch im Juni 2021, als Corona schon seit rund eineinhalb Jahren in vollem Gang war, lag die Geburtenrate [in Taiwan, die Red.] um 6 Prozent höher als im Vorjahr.“
Ja, die Corona-Pandemie war damals schon eineinhalb Jahre im vollen Gang – aber nicht in Taiwan. Im Jahr 2020 starben in Taiwan bei einer Gesamtbevölkerung von 23.6 Millionen sage und schreibe ganze sieben (7!) Personen mit oder an COVID-19. Zwischen dem 11. Mai 2020 und dem 30. Januar 2021 gab es gar überhaupt keinen Todesfall mit oder durch COVID-19. Bis überhaupt einmal eintausend (1000) Ansteckungen (nicht Spitalaufenthalte oder Todesfälle!) mit dem Coronavirus nachgewiesen waren, musste man in Taiwan bis am 19. März 2021 warten und noch am 10. Mai 2021 waren es weniger als 1200 Ansteckungen. Insgesamt gab es in Taiwan im Jahr 2020 fünf einwöchige und zwei zweiwöchige Perioden ohne einen einzigen neuen Infektionsnachweis.
Fazit: Taiwan war alles andere als im Griff des Coronavirus. Bis Mai 2021 ging dort alles seinen gewohnten Gang. Klar, man trug überall Gesichtsmaske, aber das war in Taiwan auch schon vorher üblich. Beeinflusst durch die Chinesische Medizin, trug man sie, um die Luft vorzuwärmen, oder um die dreckige Luft im Strassenverkehr zu filtern. Und wenn ein Student in der Vorlesung ein Nickerchen machen wollte, setzte er sich einfach in die hinterste Reihe, schnallte sich eine Maske um und markierte so, dass er nicht gestört werden wollte. Dies alles, wohlgemerkt, schon lange vor Corona.
Man mag den Weg Taiwans gut finden oder nicht – zumindest die wirtschaftsnahe Stiftung Avenir Suisse, die bekanntlich nicht dem SP-Bundesrats Berset nahesteht, äusserte sich durchaus positiv über die Strategie Taiwans.
Einige Fakten
(1) In den Sommermonaten 2021 gab es eine erste kleine Welle in Taiwan: Zwischen Mitte Mai und Ende Juni verzehnfachte sich die kumulierte Zahl der Ansteckungen von 1500 auf 15000 Fälle. Wohlgemerkt, dies sind nicht die täglichen oder wöchentlichen Ansteckungen, sondern die Ansteckungen insgesamt seit Beginn der Pandemie. Die Zahl der (kumulierten) Todesfälle nahm dabei von einem Dutzend auf 700 zu.
(2) Die Impfkampagne in Taiwan begann erst Anfang Juni 2021 richtig und fünf Monate später, Ende Oktober, waren bereits drei Viertel der Bevölkerung mindestens einmal gegen Corona geimpft.
(3) Die zweite Corona-Welle startete in Taiwan ziemlich genau elf Monate nach der ersten, etwa Mitte April 2022. Die kumulierte Zahl der Infizierten erhöhte sich dabei von dreissigtausend auf viereinhalb Millionen Personen und die Zahl der mit oder an COVID-19 Verstorbenen verzehnfachte sich von eintausend auf zehntausend Personen. Alleine im Monat Juni 2022 starben gemäss den offiziellen Statistiken 4’400 Personen mit oder an COVID-19.
Was sagen uns diese Zahlen?
Im Juni 2022 starben gemäss Stefan Millius sowie den Behörden Taiwans 26% mehr Personen als im Juni 2021. Insgesamt starben im Juni 2022 in Taiwan 21’033 Personen. Die Zahl der Todesfälle im Juni 2021 betrug somit etwa 16’640 – und damit genau die 4’400 weniger, die im Juni 2020 an oder mit Corona verstarben. (Korrekterweise muss man anmerken, dass bereits im Juni 2022 etwa 500 Personen in Taiwan mit oder an COVID-19 starben, die Zahlen somit keine „Punktlandung“ mehr machen.)
Selbst wenn man die Gefährlichkeit des Coronavirus allgemein für überschätzt hält: Stefan Millius vermag und versucht auch nicht zu erklären, warum ausrechnet im Juni 2021 derart viele Personen an der Corona-Impfung gestorben sein sollen – über ein halbes Jahr nachdem die Bevölkerung mehr oder weniger durchgeimpft war. Todesfälle mit einer zeitlichen Verzögerung? Dafür sollte man doch wenigstens eine Erklärung abgeben. Doch diese bleibt uns Stefan Millius in seinem Artikel schuldig.
„Der Trend zu viel weniger Geburten hat in Taiwan im Dezember 2021 begonnen und seither laufend zugenommen“ – immer gemäss Stefan Millius. Dass Frauen vielleicht nicht gerade direkt nach einer Corona-Impfung schwanger werden wollen, ist nachvollziehbar, vor allem in einem Land, wo die Naturheilkunde der Traditionellen Chinesischen Medizin und allerhand überlieferte Volksweisheiten noch immer sehr grossen Einfluss haben. Die meisten gesunden jungen Frauen wurden in Taiwan vermutlich in den Monaten September und Oktober 2021 geimpft, da die Impfung zu Beginn der Kampagne wohl auch in Taiwan speziell den gefährdeten Personen vorbehalten war. Dass neun Monate später weniger Babys auf die Welt kamen, wäre mit dieser Hypothese erklärbar. Nur: Der starke Rückgang begann ja schon im Dezember 2021. Frauen, die ihren Geburtstermin im Dezember 2021 hatten, wurden somit bereits im März schwanger – und damit bereits lange vor der Impfung. Die Impfung kann somit nicht der Grund sein, ausser sie hätte in einem späten Stadium der Schwangerschaft zu Fehlgeburten geführt. Dies wäre natürlich eine durchaus massive Nebenwirkung. Aber dafür bedarf es schon handfester Belege – einfach ein wenig mit Zahlen zu spekulieren, reicht dafür nicht.
Zudem gibt es noch eine andere Erklärung für die rekordtiefe Geburtenrate – doch dazu muss man wiederum eine gewisse Ahnung von chinesischer Kultur haben: 2022 ist das Jahr des Tigers. Dieses Jahr ist im chinesischen Volksglauben ein schlechtes Jahr, um Kinder zu haben. Da der chinesische Zodiac 12 Jahre umfasst, was 2010 ebenfalls ein Jahr des Tigers – und schon damals erreichte die Geburtenrate einen Tiefststand.
Stefan Millius irrt, wenn er schreibt: „Die einzige signifikante Veränderung in den vergangenen zwölf Monaten [in Taiwan, die Red.] war die Impfquote im Land“. Nein, die signifikante Änderung in den letzten zwölf Monaten war, dass das Coronavirus auch in Taiwan angekommen ist. Wer Sozialwissenschaft betreibt, sollte eben alle Faktoren berücksichtigen. Und ein bisschen Länderkenntnis schadet auch nie, wenn man sich über fremde Länder auslässt. Es gibt wohl schon einen Grund, warum Zeitungen viel Geld für Korrespondenten ausgeben.